Die Aufgabe des Erwachsenen
Zur „Vorbereiteten Umgebung“ zählen im Sinne der Montessori-Pädagogik also entwicklungsadäquate Lernangebote. Eine wesentliche Rolle spielt darüber hinaus die soziale und emotionale Einbettung in der Gruppe sowie der Erwachsene, der das Kind auf seinem Entwicklungsweg begleitet. Eine der schwierigsten Aufgaben des Erwachsenen ist es, dem Kind einerseits zu helfen, wo es Hilfe braucht, ihm aber auf der anderen Seite ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Selbsttätigkeit zu lassen, sodass der eigene Lernprozess und die Freude daran, „es allein geschafft“ zu haben, erhalten bleiben. Sich selbst immer wieder zurückzunehmen, damit das Kind wirklich frei tätig werden kann, und das Kind in seinem Entwicklungsprozess liebevoll und verlässlich zu begleiten, ist eine Gratwanderung, die täglich eine neue Herausforderung darstellt.
Durch diese individuelle Entwicklungsmöglichkeit, in der alle Bereiche – kognitive ebenso wie sozial-emotionale, senso-motorische und kreative – in gleichem Maß ihren Stellenwert haben, eignet sich die Montessori-Pädagogik für alle Kinder und ist daher auch für alle Arten der Integration besonders geeignet. Nach Maria Montessori ist „der Weg, den die Schwachen gehen, um sich zu stärken, der gleiche, den die Starken gehen, um sich zu vervollkommnen“.
So betrachtet bekommt die Montessori-Pädagogik in unserer Zeit des Integrationsgesetzes auf der einen und der Diskussion um Hochbegabtenschulen auf der anderen Seite eine weitere aktuelle Dimension, die uns in der täglichen Arbeit immer wieder vor Augen geführt wird:
Das gemeinsame Leben, Lernen und Arbeiten von unterschiedlich alten, behinderten und nicht behinderten Kindern, von in einzelnen Bereichen unterschiedlich begabten Kindern, von Kindern unterschiedlicher Herkunft auf unterschiedlichstem Entwicklungsstand mit verschiedensten Erfahrungen, Interessen, Vorlieben und Abneigungen ist mit einer differenzierenden Methode nicht nur möglich, sondern eine absolut natürliche Situation, von der jedes Kind immer wieder profitiert – sei es durch die Hilfe anderer, sei es durch eigene Hilfestellungen, bei denen erworbenes Wissen und Können auf einer nochmals anderen Ebene erprobt und verwendet werden kann.
© Saskia Haspel, April 1991